Aufenthaltsqualität – ein oft wiederholtes Stichwort in Zusammenhang mit der „Grundhaften Erneuerung und Umgestaltung der Ortsdurchfahrt Tutzing“, so der offizielle Titel oder die Umgestaltung der Ortsmitte, wie vom Stadtplaner Martin Büscher beim  Bürgerforum am 03.04.2017 erweiternd betitelt. Was bedeutet das eigentlich?

Die mehrfach angesprochene Aufenthaltsqualität im mittleren Abschnitt der Hauptstraße betrifft den öffentlich zugänglichen Raum. Das ist kein strenger Rechtsbegriff. Der öffentlich zugängliche Raum ist schlicht der Raum, in dem der Mensch unterwegs ist, wenn er seine Wohnung verlassen hat (vgl. SZ, Aktuelles Lexikon, Öffentlicher Raum). Als öffentlicher Raum (auch öffentlicher Bereich) wird jene räumliche Konstellation bezeichnet, die aus einer öffentlichen Verkehrs- oder Grünfläche und den angrenzenden privaten oder öffentlichen Gebäuden gebildet wird.

Gerade in dicht bebauten Zentrumsbereichen sind attraktive öffentliche Freiräume ein wichtiger Standortfaktor. Konkret sind das in Tutzing in erster Linie die Gehsteige und Plätze. Aufenthaltsqualität betrifft für den Fußverkehr in erster Linie das Verweilen, weniger den Transitverkehr, also den Fußweg von A nach B (Verkehrsfunktion). Diese Unterscheidung ist wichtig, weil der öffentliche Raum nicht nur zur Durchquerung dient, sondern auch als Ziel an sich erlebt werden kann. Ferner bestehen verschiedene weitere Raumansprüche. Boulevardcafés, Warenauslagen, Stadtmöbel, Baustellen, usw. beanspruchen oft auch Fußverkehrsflächen. Die Auswirkungen auf den Fußverkehr sind allerdings selten genügend berücksichtigt.

Hilfreich für das Verständnis der Aufenthaltsnutzungen ist das Konzept* der notwendigen, optionalen und sozialen Aktivitäten nach Jan Gehl, dem dänischen Architekt und Stadtplaner:

  • Notwendige Aktivitäten (Schul- und Arbeitswege, Einkaufen Warten auf den Bus)
  • Optionale Aktivitäten (Spazieren, Herumstehen, Sitzen, Sonnen – alles meist bei gutem Wetter)
  • Soziale Aktivitäten (Begrüßungen, Diskussionen, Zuhören, Zuschauen, Spielen der Kinder)

Die Grenzen sind fließend. So ist beim Gehen der Weg zum Einkauf eine notwendige, der Schaufensterbummel eine optionale Aktivität. Je stärker der Versorgungszweck hinter den Erlebnisaspekt beim Besuch zentraler Stadträume zurücktritt, desto mehr gewinnt die Qualität der öffentlichen Räume an Bedeutung. Vor allem die Alltagstauglichkeit und Aufenthaltsqualität öffentlicher Räume spielen eine große Rolle für die Attraktivität der Zentren. Was wir erreichen sollten, ist die Verbesserung der städtebaulichen Infrastruktur mit der Möglichkeit optionaler und insbesondere sozialer Aktivitäten für die Bürgerinnen und Bürger. Dort, auf Gehsteige und Plätzen entscheidet sich, wie sicher und wie wohl sich die Bewohner eines Ortes fühlen.

Das wird immer wichtiger, weil sich im Zuge der digitalen Transformation die Innenstädte bzw. die Ortskerne verändern werden. Immer größere Teile des Handels wandern ins Netz. Überall dort, wo Einkaufen kalt und sachlich ist, gewinnt das Netz die Oberhand. Geschäfte für den sofortigen Bedarf wird es genauso geben wie mit Leidenschaft geführte Boutiquen für Mode, Bücher, Parfüm und vieles andere mehr. Gleichzeitig erleben die Ortszentren eine Renaissance als Orte der Begegnung, des sozialen Austauschs und des Unter-die-Leute-Gehens. Das ist die diskutierte Zukunft** und wir tun gut daran, bei der Umgestaltung der Ortsmitte auch solche Entwicklungen einzubeziehen.

Jan Gehl ordnet* insgesamt 12 Qualitätskriterien für den öffentlichen Raum nach drei Kategorien. Außerhalb der Kategorie Schutz (vor Verkehr, vor Unfällen, vor Lärm) können die Kategorien

  • Komfort (Möglichkeiten zum Gehen, zum Verweilen, zum Sitzen, zum Stehen, zum Sprechen und Hören sowie – weniger – zu Spiel und Sport) und
  • Freude/Sinnlichkeit (menschlicher Maßstab bei Gebäuden und Räumen, Möglichkeiten, das schöne Wetter zu genießen und angenehme sinnliche Erfahrung des öffentlichen Raums durch attraktive Gestaltung, passende Materialen, Bepflanzung, schöne Aussichten)

in die Planungen einbezogen werden. Die Qualität des öffentlichen Raums steigt mit der Erfüllung der vorgenannten Möglichkeiten. Sie wird damit in gewisser Weise messbar gemacht. Der Zustand des öffentlichen Raums entscheidet über das Gemeingefühl der Bürgerinnen und Bürger. Das beginnt übrigens beim Zustand des Bahnhofs als dem Ort des ersten Willkommens und geht bis zum Zustand der öffentlichen WCs, beides Themen in Tutzing.

*) nach Fussverkehr Schweiz: Qualität von öffentlichen Räumen. Methoden zur Beurteilung der Aufenthaltsqualität, Schweiz 2015.

**) Christoph Keese, Silicon Germany – Wie wir die digitale Transformation schaffen, München 2016, S. 142f.

 

One Reply to “Aufenthaltsqualität in der Ortsmitte”

  1. Zwischenbilanz
    Vielen Dank für die umfangreiche Vermittlung von Informationen.
    Es sind wohl mehr Verständnisse und Absichten, denen mittlerweile wenig zu folgen scheint. Das Bürgerforum wird plötzlich als Basisdemokratie verstanden, mit dem Etikett „wollen wir das eigentlich?“ beklebt. Ein zweites Bürgerforum als solches scheint in weite Ferne zu rücken. Die Rolle der Vierten Gewalt stellt sich als unsichtbare Gewalt heraus.
    Von den Parteien ist in den gemeindlichen Schaukästen (anlog und digital) nichts zu lesen, außer völlig nichtssagendem Kram von vorgestern. Die von der Tutzinger Liste öffentlich mehrfach unterschiedlich kampflustig behandelten und sogar kommentierten Fragen nach Tiefgang der Foren, deren Charakteristik und dem weiteren Vorgehen, hängen voll im Raum. Flankiert durch 17 Fragen an die mit der Hauptstraße sich Befassenden. Die Fragen scheinen keinen mehr zu interessieren, es gibt keine Antworten. Wozu machte sich die TL eigentlich die Arbeit?
    Interessanter scheint da ein Bergahorn zu sein. Den kann man anfassen, davon versteht jeder etwas. Der diesen Bergahorn ablehnende Politik-Sachverständige sollte sich einmal um die Schaukasten-Angelegenheit oder gar das heimische Internet kümmern und Einfluss auf dessen Funktion nehmen.
    Es gibt den schönen Spruch, manche Leute sollten mal so richtig auf den Pott gesetzt werden. Auch das geht nicht. An den Bahnhofstoiletten wird nämlich nur publikumswirksam herumgejammert; eine Stätte der Tränen. Geschlossen! Tutzing, ein Ort geschlossener und öffentlicher Veranstaltungen, sich nun auf die Ferien bis September vorbereitend!
    Das Straßenbauamt Weilheim weiß genau, was normative Kraft des Faktischen bedeutet. Wen wundert es, wenn deren staatlicher Weitblick so zuschlagen wird … wie jüngst angekündigt. Wäre es nicht so unfein und despektierlich, könnte gesagt werden, Tutzing bestünde vorwiegend aus Schlafmützen. Was aber bestimmt keinesfalls der Fall ist. Die hervorragende Arbeit an der Hauptstraße wird zu gut verborgen.
    HF

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